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Der Pflichtteilsergänzungsanspruch: Anspruchsvoraussetzung, Höhe & Anrechnung

Fachanwalt für Erbrecht Jeremias Ullmann im Interview

Durch das Pflichtteilsrecht wird in Deutschland gewährleistet, dass nahe Angehörige eine Mindestbeteiligung am Nachlass des Verstorbenen erhalten. Aber was geschieht, wenn der Erblasser bereits zu Lebzeiten sein Vermögen verschenkt, das später eigentlich Teil des Nachlasses gewesen wäre? Hier kommt der Pflichtteilsergänzungsanspruch ins Spiel, der diese lebzeitige Vermögensminderung zu Lasten der enterbten nahen Angehörigen (Ehegatten, Abkömmlinge und ggf Eltern) berücksichtigt. Wann dieser zum Tragen kommt, was der Begriff Abschmelzung hiermit zu tun hat und wie Sie Ihren Pflichtteilsergänzungsanspruch geltend machen können, erfahren Sie von Rechtsanwalt Jeremias Ullmann, Fachanwalt für Erbrecht in Augsburg.

Jeremias Ullmann ist seit 2012 Rechtsanwalt und seit Anfang 2022 Fachanwalt für Erbrecht. Er ist nahezu ausschließlich im Erbrecht sowie bei lebzeitigen Vermögensübertragungen tätig. Zusätzlich arbeitet Rechtsanwalt Jeremias Ullmann als Testamentsvollstrecker, aber auch als gerichtlich bestellter Nachlasspfleger. Er ist 40 Jahre alt, gebürtiger Augsburger und arbeitet auch in Augsburg.

Was ist ein Pflichtteilsergänzungsanspruch und wie unterscheidet er sich vom Pflichtteilsanspruch?

Lassen Sie mich mit dem Pflichtteilsanspruch anfangen. Wenn Kinder, Ehegatten oder auch Eltern enterbt wurden, haben diese gegen den oder die Erben einen sogenannten Pflichtteilsanspruch. Dieser beträgt die Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils. Maßgeblich ist der Wert des Nachlasses zum Todestag. Hierzu ein Beispiel:

Ein Erblasser, dessen Ehefrau vorverstorben ist, hat zwei Kinder. Ein Kind enterbt er, das andere Kind setzt er zum Alleinerben ein. Beide Kinder wären, wenn es kein Testament geben würde, Miterben zu jeweils 1/2. Die gesetzliche Erbquote wäre also 1/2. Durch die Enterbung entsteht ein Pflichtteilsanspruch für das enterbte Kind in Höhe 1/4, also die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruches.
Bemessungsgrundlage für den Pflichtteilsanspruch ist der Todestag, dh maßgeblich sind sämtlich Vermögenspositionen des Erblassers (also Aktiva wie Passiva) zum Todestag. Der Pflichtteilsanspruch ist ein sog schuldrechtlicher Zahlungsanspruch, der in Geld zu erfüllen ist.

Der Pflichtteilsergänzungsanspruch, der in den Paragrafen 2325 ff. BGB geregelt ist, ist eine flankierende Regelung zum Schutz der enterbten nahen Angehörigen. Dieser Schutz wird erreicht, indem Schenkungen des Erblassers zu seinen Lebzeiten berücksichtigt, diese also fiktiv dem Nachlass hinzugerechnet werden. Dadurch wird zB vermieden, dass sich der Erblasser bewusst entreichern kann, um Pflichtteilsansprüche zu reduzieren. Wurden also in den letzten zehn Jahren vor dem Tod Schenkungen vorgenommen, dann werden diese fiktiv in den Nachlass eingestellt, wodurch sich im Endeffekt der Pflichtteil entsprechend erhöht. Diese Berücksichtigung von lebzeitigen Schenkungen des Erblassers (grundsätzlich der letzten 10 Jahre vor Tod) stellt den Pflichtteilsergänzungsanspruch dar.

Ein weiterer Unterschied ist, dass sich der Pflichtteilsberechtigte sog. Eigengeschenke, die er vom Erblasser erhalten hat, auf seinen Pflichtteilsanspruch nur anrechnen lassen muss, wenn der schenkende Erblasser dies vorher oder bei der Schenkung ausdrücklich erklärt hat. Beim Pflichtteilsergänzungsanspruch muss sich der Pflichtteilsberechtigte hingegen selbst erhaltene Eigengeschenke stets vollumfänglich auf seinen Pflichtteilsergänzungsanspruch anrechnen lassen.

Wozu dient der Pflichtteilsergänzungsanspruch? Was soll damit vermieden werden?

Der Gesetzgeber möchte hiermit besonders die enterbten Pflichtteilsberechtigten schützen. Die Pflichtteilsansprüche der Pflichtteilsberechtigten sollen nicht entkernt oder ausgehöhlt werden.

Gibt es hier besondere Fristen, die eingehalten werden müssen?

Ja, die gibt es. Beim Pflichtteilsergänzungsanspruch haben wir die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren. Diese beginnt nicht mit dem Tod, sondern mit Ablauf des Jahres, indem der Anspruch entstanden ist und der Pflichtteilsberechtigte vom Eintritt des Erbfalls und seiner Enterbung erfährt. Erfährt der Pflichtteilsberechtigte beispielsweise am 11. Februar 2023 vom Tod des Erblassers von dessen Schenkungen, startet die 3-Jahres-Frist am 01.01.2024.

Wenn der Pflichtteilsberechtigte nach Ablauf dieser drei Jahre seinen Anspruch nicht geltend gemacht hat, kann der oder die Erben die Einrede der Verjährung erheben und der Anspruch wäre nicht mehr durchsetzbar. Spätestens nach 30 Jahren verjährt kenntnisunabhängig der Pflichtteilsergänzungsanspruch.

Der Pflichtteilsergänzungsanspruch soll besonders die enterbten Pflichtteilsberechtigten schützen, damit deren Pflichtteile nicht gemindert werden.

Was hat der Begriff der Abschmelzung mit Pflichtteilsergänzung zu tun?

Die in § 2325 Abs 3 BGB enthaltene Abschmelzungsregel bedeutet, dass Schenkungen pro Jahr um 10 Prozent abgeschmolzen werden. Dadurch wird der Umfang des Pflichtteilsergänzungsanspruchs kontinuierlich abgeschmolzen. Erfolgte beispielsweise eine Schenkung fünf Jahre vor dem Tod, so wird diese nur noch mit 50 Prozent berücksichtigt. Wenn hingegen eine Schenkung innerhalb eines Jahres vor dem Tod erfolgte, so wird diese mit 100 % berücksichtigt. Schenkungen, die zehn Jahre vor dem Erbfall getätigt wurden, unterfallen gar nicht mehr der Pflichtteilsergänzung.

Können Sie an einem Beispiel aufzeigen, ab wann die Frist zu laufen beginnt und wie der Anspruch pro Jahr schmelzen würde?

Angenommen, wir haben eine Schenkung von 10.000 EUR des Erblassers 10 Monate vor dessen Tod. In diesem Fall wird die Schenkung zu 100 % dem Nachlass hinzugerechnet. Oder sind seit der Schenkung neun Jahre bis Eintritt des Todes abgelaufen, so wäre diese Schenkung noch mit 10 % des Betrages, also 1.000 € dem Nachlass hinzuzurechnen. Man muss sich also merken, dass pro Jahr die Schenkungen mit 10 % abgeschmolzen werden.

Hierbei gibt es aber auch Ausnahmen. Der Bundesgerichtshof hat zum Beispiel vor einigen Jahren entschieden, dass die 10-Jahres-Frist bei jenen Schenkungen nicht anläuft, bei denen der Schenker sich einen Nießbrauch, also ein sehr umfassendes Nutzungsrecht, vorbehalten hat. Selbst wenn der Erblasser die Schenkung bereits vor 12 Jahren vollzogen, sich aber den Nießbrauch vorbehalten hat, wird die Schenkung trotzdem mit 100 % in den Nachlass eingestellt. Der BGH hat dies damit begründet, dass der Erblasser sich bei Vorbehalt des Nießbrauchs nicht entreichert hat, da er aufgrund des umfassenden Nutzungsrechts de facto wirtschaftlicher Eigentümer bleibt.

Übrigens beginnt die 10-Jahres-Frist bei Ehegatten erst mit Ende der Ehe zu laufen, egal, ob durch Scheidung oder Tod. Wenn Ehegatten sich also vor 20 Jahren etwas geschenkt haben und dann ein Ehepartner verstirbt, muss der andere Ehegatte als Erbe seinen enterbten Kindern gegenüber sämtliche Schenkungen des verstorbenen Ehegatten an den überlebenden Ehegatten mitteilen und sich fiktiv diese Schenkungen dem Nachlass zu 100 Prozent hinzurechnen lassen. Dies stellt für den überlebenden Ehegatten dann natürlich eine missliche Situation dar, da er in der Regel keine Kenntnis über sämtliche Schenkungen des verstorbenen Ehegatten an sich mehr hat.

Schenkungen werden pro Jahr um 10 % abgeschmolzen. Wird eine Schenkung 7 Jahre vor dem Tod des Erblassers getätigt, wird sie also nur noch mit 30 % berücksichtigt.

Das heißt, der Pflichtteilsergänzungsanspruch kommt dann zum Tragen, wenn der Erblasser vor seinem Tod Vermögen verschenkt. Aber woher weiß ich als Erbe, wann der Erblasser, wen bzw. was beschenkt hat?

Es gibt natürlich Konstellationen, in denen die Eltern keinen Kontakt zu ihren Kindern oder Kinder keinen zu ihren Geschwistern haben. Da stellt sich die Frage, wie der Pflichtteilsberechtigte dann zu den Erkenntnissen kommt, um seine Ansprüche geltend zu machen. Dies hat der Gesetzgeber erkannt und in Paragraf 2314 BGB einen sogenannten Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch vorgesehen. Dadurch hat der Pflichtteilsberechtigte Anspruch gegen den oder die Erben auf Auskunft, was zum Zeitpunkt des Todes im Nachlass war. Auch die Schenkungen, die für den Pflichtteilsergänzungsanspruch relevant sind, müssen bei der Auskunft und Wertermittlung miteinbezogen werden.

Das heißt, der Pflichtteilsberechtigte sollte im Rahmen dieser Auskunft von den Erben die Erstellung eines Nachlassverzeichnisses verlangen. In diese muss der oder die Erben sämtliche Aktiva und Passiva zum Zeitpunkt des Todes aufführen und auch erklären, welche Schenkungen erfolgt sind. Der Auskunftsanspruch ist durch einen sogenannten Wertermittlungsanspruch flankiert. Dieser ist von Relevanz, wenn sich im Nachlass Immobilien, Oldtimer, Kunst oder wertvollen Sammlerobjekten befinden bwz diese vorher verschenkt wurden. Ein geeigneter Gutachter muss dann die Werte der Objekte mittels Gutachten feststellen.

Das Nachlassverzeichnis kann dabei schriftlich vom Erben selbst erstellt werden oder falls vom Pflichtteilsberechtigten gefordert als notarielles Nachlassverzeichnis. Ein notarielles Nachlassverzeichnis bietet in der Regel eine höhere Gewähr dafür, dass die Angaben vollständig und korrekt sind. Falls Zweifel an der Vollständigkeit oder Richtigkeit seiner Auskunft bestehen, muss der Erbe seine Auskünfte auf Verlangen des Pflichtteilsberechtigten sogar eidesstattlich versichern.

Stichwort „Bewertung“: Wie werden die Schenkungen bewertet?

Der Wert ist natürlich ganz entscheidend. Man unterscheidet hier von Gesetzes wegen verbrauchbare und nicht verbrauchbare Sachen. Typische verbrauchbare Sachen sind Geld, Wertpapiere, Lebensmittel etc. Nicht verbrauchbare Sachen sind zum Beispiel Grundstücke. Bei den verbrauchbaren Sachen, wie Geld, kommt es auf den Zeitpunkt der Schenkung an. Wenn vor fünf Jahren 50.000 EUR verschenkt wurden, ist der Zeitpunkt der Schenkung vor fünf Jahren maßgebend. Es ist dann auch egal, wenn das Geschenk bereits verbraucht, verloren oder untergegangen ist.

Bei den nicht verbrauchbaren Sachen, zum Beispiel ein Grundstück, sieht es anders aus. Hier hat das Gesetz das sogenannte Niederstwertprinzip vorgesehen. Das bedeutet, man schaut sich den Wert der Schenkung am Tag der Schenkung sowie zum Zeitpunkt des Todes an. Der niedrigere Wert ist dann der maßgebliche. Wenn also vor fünf Jahren eine Immobilie vom Erblasser verschenkt wurde und nach fünf Jahren der Erblasser gestorben ist, dann ist aufgrund der erheblichen Preissteigerungen am Immobilienmarkt in den letzten Jahren höchstwahrscheinlich der Wert zum Zeitpunkt der Schenkung maßgeblich.

Gibt es die Möglichkeit direkt vom Beschenkten die Pflichtteilsergänzung einzufordern, wenn der Nachlass zur Befriedigung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs nicht ausreicht?

Grundsätzlich richtet sich der Pflichtteilsergänzungs- sowie der Pflichtteilsanspruch gegen die bzw. den Erben. Wenn z.B. der Nachlass für die Pflichtteilsansprüche jedoch nicht liquide genug ist, hat der Pflichtteilsberechtigte unter Umständen einen Pflichtteilsergänzungsanspruch gegen den Beschenkten. Hier sollte man unbedingt auf die 3-jährige Verjährungsfrist aufpassen. Diese läuft in dem Fall genau am Todestag an und nicht ab Kenntnis von Tod und Schenkung.

Wie können nun Sie als Rechtsanwalt Klienten bei solch einem Anliegen rechtlich behilflich sein?

Meine Aufgabe als Rechtsanwalt und Fachanwalt für Erbrecht ist u.a. die Geltendmachung und Durchsetzung von Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüchen. Bei solchen Sachverhalten benötigt es einen versierte*n und spezialisierte*n Rechtsanwalt*Rechtsanwältin. Ich rate daher dringend, dass die Mandantin oder der Mandant einen Rechtsanwalt*Rechtsanwältin aufsucht!

Klassischerweise würde ich für den Pflichtteilsberechtigten im ersten Schritt die Erben anschreiben und zur Auskunft auffordern. Denn oftmals weiß man gar nicht, wie viel im Nachlass steckt, welche Schenkungen zu Lebzeiten durchgeführt wurden usw. Anschließend oder zeitgleich wäre ggf. der Wertermittlungsanspruch geltend machen. Wenn man dann die notwendigen Informationen hat, kann man für den Pflichtteilsberechtigten die Ansprüche beziffern und die Erben müssten diese bezahlen. Sollten die Erben dem Auskunftsverlangen, dem Wertermittlungsverlagen oder aber der geforderten Zahlung nicht nachkommen, werden die Ansprüche gerichtlich geltend machen. In der Regel geschieht das mit einer sogenannten Stufenklage. Zunächst wird Auskunft verlangt, dann die Wertermittlung, und wenn die Auskünfte dann erteilt wurden, kann man auf der Leistungsstufe die Ansprüche beziffern und die konkrete Zahlung vom Erbe verlangen.     

Haben wir am Schluss ein rechtskräftiges Urteil, weil man sich vergleichsweise nicht geeinigt hat und der Erbe oder die Erben zahlen noch immer nicht, helfe ich selbstverständlich auch bei der Zwangsvollstreckung. Ziel ist, dass mein*e Mandant*Mandantin am Ende des Tages zu seinen*ihren Pflichtteils- und/oder Pflichtteilsergänzungsansprüchen kommt!

Vielen Dank für das Interview!

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Jeremias Ullmann

Rechtsanwalt für Erbrecht

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